«Was denken Sie über das Thema Schuld? Ich habe gehört, Sie hätten dazu eine ziemlich komische Meinung.» Das hat mich neulich an einer Lesung eine Frau aus dem Publikum gefragt. Tatsächlich geht es in meinem Roman «Dort» um Schuld – sämtliche Hauptfiguren laden mehr oder weniger davon auf sich. Eine Meinung dazu hat das Buch aber nicht; es erzählt einfach eine Geschichte. Die Frage, was ich denn persönlich davon halte, kommt trotzdem immer wieder, seit ich mich mal dazu geäussert habe. Offenbar beschäftigt das Thema andere Leute ebenso sehr wir mich.
«Was denken Sie über das Thema Schuld? Ich habe gehört, Sie hätten dazu eine ziemlich komische Meinung.» Das hat mich neulich an einer Lesung eine Frau aus dem Publikum gefragt. Tatsächlich geht es in meinem Roman «Dort» um Schuld – sämtliche Hauptfiguren laden mehr oder weniger davon auf sich. Eine Meinung dazu hat das Buch aber nicht; es erzählt einfach eine Geschichte. Die Frage, was ich denn persönlich davon halte, kommt trotzdem immer wieder, seit ich mich mal dazu geäussert habe. Offenbar beschäftigt das Thema andere Leute ebenso sehr wir mich.
Meine «komische» Meinung zur Schuld ist die:
Ich glaube nicht, dass es sie gibt.
Bevor ich das zu erklären versuche, lohnt es sich zu überlegen, was «Schuld» bedeutet. Wir verwenden das Wort auf zwei Arten. Einerseits rein kausal:
«Der Regen ist schuld daran, dass die Party nicht draussen stattfinden kann.»
Andererseits moralisch:
«Kathy, mit ihrem ständigen Genöle, ist schuld daran, dass die Stimmung an der Party so schlecht war.»
Mir geht es um die zweite, die moralische Verwendung. Uns ist klar, dass der Regen absichtslos fällt. Kathy hingegen unterstellen wir, dass sie uns das Fest absichtlich vermiest. Dabei ist Kathy nur insofern «schuld» an der schlechten Stimmung, wie der Regen «schuld» daran ist, dass die Stühle im Garten nass sind. Sie ist die Ursache der schlechten Stimmung, wie der Regen die Ursache der Nässe ist. Ja, vielleicht sorgt auch der Regen nicht bloss für Nässe, sondern schlägt sich, wie Kathys Genöle, ebenfalls auf die Stimmung nieder. Eine eigentliche, moralische Schuld trägt er dafür ebenso wenig wie sie – weil es eine solche Schuld nicht gibt.
Halt, Moment, denken wir hier automatisch. Hätte Kathy sich nicht einfach zusammenreissen sollen und ihr ewiges Zwanzig-nach-acht-Gesicht auf auf Zehn-vor-zwei umstellen können? Hätte sie sollen. Konnte sie aber nicht. Kathy hat keinen freien Willen, keine Wahl. Dasselbe gilt für uns alle.
Die Sache mit dem freien Willen ist, wenn man sich’s überlegt, recht einfach: Unsere Identität ist ein Produkt aus 1) unserem Erbgut und 2) unseren Erfahrungen. Oder, falls eine Formel in einem Kulturblog erlaubt ist:
I = E x E.
Das ist alles, mehr Faktoren gibt es nicht. Mit «Erbgut» sind unsere Gene gemeint, die wir bei der Zeugung mitbekommen haben. Mit «Erfahrungen» meine ich alles, was uns seit dieser Zeugung passiert ist, also die Gesamtheit von all dem, was wir erlebt haben: die Geburt, die Masern, den Haferbrei, die Absage auf das Briefchen «Willst du mit mir gehen?», den ersten Vollrausch, das Henna-Tattoo, die Skiferien und den Nagelpilz. Alles, was uns verändert hat, beeinflusst, geprägt.
So weit, so unspektakulär. Das Erschreckende an dieser einfachen Einsicht ist aber, dass wir auf beide Faktoren – Erbgut und Erfahrungen – keinerlei Einfluss haben. Sobald wir auf der Welt sind, läuft ein Programm ab. Wir starten mit einem bestimmten Erbgut, und das entwickelt sich unter Umwelteinflüssen. Nichts von dem, was wir tun, ist Aktion; alles ist Reaktion. Jeder Herzschlag folgt auf einen elektrischen Impuls, jeder Gedanke schliesst an einen andern an, jede Handlung an die vorherige. Auf jede einzelne Situation können wir nur als die Person reagieren, die wir zu diesem Zeitpunkt gerade sind – die Person also, die wir geworden sind. Kurz: Wir tun, was wir tun, weil wir sind, wer wir sind. Daran etwas zu ändern, steht nicht in unserer Macht.
Das ist nun nicht einfach irgendeine steile Behauptung; die Neurowissenschaft unterstützt sie. So hat beispielsweise ein Experiment des Hirnforschers Benjamin Libet gezeigt, dass das, was wir als Wollen empfinden, erst passiert, wenn unser Gehirn die gewollte Aktion bereits ausgelöst hat. Libets Probanden mussten angeben, zu welchem Zeitpunkt sie ihren Zeigefinger bewegen wollten. Ihr «Entscheid» kam jeweils deutlich später als der motorische Impuls des Gehirns. Das bedeutet: Unser vermeintlich freier Wille ist nichts als eine Illusion – eine Reaktion in unserem Kopf auf eine bereits entschiedene Sache.
Als ich mir das zum ersten Mal überlegt habe, wurde mir ein bisschen schwindlig. Was bedeutet das, dachte ich, für die Gesellschaft, wenn niemand etwas für seine Taten kann?
Die beruhigende Antwort: Herzlich wenig. Wir können nicht ändern, wer wir sind, was wir tun, was wir denken und fühlen – also auch nicht das Gefühl, uns entscheiden zu können. Wir können die Illusion eines freien Willens zwar logisch demontieren, aber ausschalten können wir sie nicht. Dasselbe gilt für unsere Schuldgefühle und unser Gerechtigkeitsempfinden. Ein Kind, dem Sand ins Gesicht geworfen wird, wird es immer als gerecht empfinden, Sand zurückzuwerfen. Das muss so sein, und es nützt uns allen: Eine Gesellschaft ohne die Idee von Schuld würde wohl nicht lange überleben. Deshalb – weil die Illusion so nützlich ist – hat uns die Evolution damit ausgestattet.
Schuld oder nicht, bleibt also alles beim Alten? Nein, es gibt zumindest einen Bereich, den wir überdenken sollten: die Strafjustiz. Wenn wir akzeptieren, dass es keine Schuld gibt, dann gibt es auch keine Schuldfähigkeit, ja nicht mal eine Zurechnungsfähigkeit. Warum sollte eine geistige Krankheit vor Gericht als Entschuldigung taugen, eine Veranlagung zu aggressivem Verhalten aber nicht? Beide sind biologisch bedingt und sozial geprägt. Für beide können die Betroffenen nichts.
In einer Welt, die sich ihrer Unschuld bewusst ist, müssen Strafen im Hinblick auf die Zukunft verhängt werden, sie dürfen nicht rächen, was passiert ist. Eine «gerechte Strafe» gibt es darin nicht, nur mehr oder weniger nützliche. Nützlich können drei Arten von Strafen sein. 1) Verwahrung: Wir sperren den Täter ein, damit er uns nichts mehr antun kann. 2) Besserung: Wir therapieren ihn. 3) Abschreckung: Wir bestrafen ihn, um Nachahmungstäter zu demotivieren. Alles andere – zum Beispiel die Todesstrafe, die übrigens nachweislich nicht zur Abschreckung taugt – gehört auf den Misthaufen der Geschichte. Strafen sollten auf Vernunft basieren, nicht auf archaischen Rachegelüsten. Ein Strafgericht ist kein Sandkasten.
Niko Stoifberg, geboren 1976 in Luzern, hat als Glaceverkäufer, Kellner, Weinhändler, Briefträger und Journalist gearbeitet. Er ist Redaktor bei getAbstract, einem Unternehmen, das Bücher zusammenfasst. Eine Auswahl von Stoifbergs Kolumne «Vermutungen» erscheint als «Das Blaue Büchlein» mittlerweile in der 3. Auflage. 2019 erschien sein erster Roman «Dort», der unter anderem für den Franz-Tumler-Preis und den Buddenbrookhaus-Depütpreis nominiert war. «Dort» ist eine der Schweizer Neuerscheinungen, die Pro Helvetia als «12 Swiss Books 2019» der fremdsprachigen Welt zur Übersetzung empfiehlt.
www.stoifberg.com