Das Rätsel der Ankunft

●  Lese­zeit etwa 15 Minu­ten

«Wo treibst du dich gerade rum?» Das ist die erste Frage, die Freunde mir stel­len, wenn sie mir eine Nach­richt schrei­ben. Bekannte wünschen mir alles Gute zum Geburts­tag mit dem Beisatz «wo auch immer du gerade bist». Es gab Monate im vergan­ge­nen Jahr, in denen ich nie länger als fünf Tage am glei­chen Ort und die Butter in meinem Kühl­schrank immer ranzig war.

Ich bin nicht die Einzige, die so lebt. Wenn ich mit Freun­den spre­che, erzäh­len sie zuerst von ihrem Yoga­trip nach Bali oder wie sie sich in Kali­for­nien selbst gefun­den haben. Wenn ich durch meinen Insta­gram-Feed scrolle, sehe ich sie auf Partys in Argen­ti­nien oder surfend an der Küste Portu­gals. Aus einer Umfrage der Unter­neh­mens­be­ra­tung Deloitte geht hervor, die Welt zu entde­cken sei das oberste Ziel der Gene­ra­tion Y – dazu gehö­ren Perso­nen der Jahr­gänge 1981 bis 1998, also auch ich.

Wir wollen in Indien Elefan­ten sehen und in Austra­lien arbei­ten, bevor wir uns auf einen Ort fest­le­gen, an dem wir die Windeln unse­rer Kinder wech­seln. Wir wollen etwas erle­ben, bevor wir ankom­men. Wenn ich in diesem Text «wir» schreibe, dann meine ich in erster Linie uns Millen­ni­als – also die Gene­ra­tion, von der es heisst, sie gehe Entschei­dun­gen gern aus dem Weg und halte sich alle Möglich­kei­ten offen.

Die Zahlen des Bundes­amts für Statis­tik zeigen: Im Jahr 2015 legte ein Schwei­zer im Durch­schnitt 24’849 Kilo­me­ter zurück, fast die Hälfte davon im Ausland. Am meis­ten Kilo­me­ter im Jahr errei­chen 25- bis 44-Jährige, sie fahren durch­schnitt­lich 31’335 Kilo­me­ter, knapp dahin­ter liegen die 18- bis 24-Jähri­gen.

Ich habe über­schla­gen, wie viele Kilo­me­ter ich am Ende dieses Jahres in Zügen, Autos, Bussen und Flug­zeu­gen zurück­ge­legt haben werde. Es sind mehr als 40’000. Wie viele Stun­den ich in Verkehrs­mit­teln verbringe, traue ich mich gar nicht nach­zu­rech­nen. Freunde und Bekannte fragen mich: Ist es nicht anstren­gend, stän­dig an einem ande­ren Ort zu sein? Sie raten mir, ich solle doch mal irgendwo ankom­men.

Was sie mir aller­dings nicht sagen können, ist: Wie macht man das über­haupt – ankom­men? Welche Schritte sind notwen­dig, um das zu errei­chen? Und was bedeu­tet es über­haupt, anzu­kom­men? Meine Freun­din Katha­rina, 32, zog vor einem Jahr nach Rostock, an den Ort, an dem sie gebo­ren wurde, sie sagt: «Das ist eine weit­rei­chende Frage, über die ich noch einmal nach­den­ken könnte.» Nach kurzem Zögern sagt sie: «Nach den vielen Unru­he­pha­sen in meinem Leben habe ich mich nieder­ge­las­sen und meinen Mittel­punkt gefun­den. Für den Moment habe ich das Gefühl – das kann sich natür­lich alles noch mal ändern –, ange­kom­men zu sein.»

Diese Unru­he­pha­sen, von denen sie spricht, die kenne ich.

Vom Gehen

Das erste Mal ging ich weg aus meinem Zuhause in Südti­rol, um zu studie­ren. Das zweite Mal wegen eines Jobs, das dritte Mal, weil ich mich beruf­lich weiter­ent­wi­ckeln wollte. Ich bin in meinen 28 Jahren neun­mal umge­zo­gen, sechs­mal in eine neue Stadt. Ich ging, weil die Provinz nicht bieten konnte, wonach ich suchte. Weil das Leben zu leise war. Weil es zwar viel Platz gibt in Südti­rol, aber für mich nicht genug.

Laut dem «Inter­na­tio­nal Migra­tion Report» von 2017 lebt welt­weit jede 30. Person nicht mehr in ihrem Herkunfts­land. Das sind 258 Millio­nen Migran­ten welt­weit, 106 Millio­nen davon sind in Asien gebo­ren, 61 Millio­nen in Europa. Die Zahl ist seit der Jahr­tau­send­wende um 40 Prozent gestie­gen. Menschen verlas­sen oft wegen Krie­gen oder Kata­stro­phen ihre Heimat, aber nicht nur. Sie verlas­sen sie auch, um sich anderswo ein neues Leben aufzu­bauen – in der Hoff­nung, dass es ein erfüll­te­res, erfolg­rei­che­res sein wird.

Vor fast einem Jahr bin ich nach Tübingen gezo­gen, eine kleine Stadt in Deutsch­land. Die Arbeit hat mich hier­her­ge­bracht. Die Arbeit ist es auch, die mich hier hält. Wenn Freunde mich besu­chen, schwär­men sie, wie schön ich es doch habe an diesem Ort. Ich blicke mich um, und alles, was ich sehe, sind die immer glei­chen Häuser, an denen ich Tag für Tag vorbei­laufe, die glei­chen Wege, auf denen ich mich unge­zählte Male verlor, bis ich die Struk­tur der Stadt endlich verstan­den habe, die glei­chen Bars, in denen immer die glei­chen Menschen tanzen. Was ich sehe, ist Still­stand. Dabei ist es nicht so sehr die Stadt, die still­steht, sondern ich. Ich fühle mich, als hätte ich mein Leben auf Pause gedrückt.

In der Psycho­lo­gie ist die Rede von psychi­scher Sätti­gung, wenn man eine Tätig­keit so oft wieder­holt, bis man eine Abnei­gung dage­gen entwi­ckelt und die Leis­tung abnimmt. Der Ausweg: Man verlässt die Situa­tion, die die Sätti­gung auslöst.

In den Zwan­zi­gern wollen wir weg von allem, was Alltag ist, weil Alltag Mono­to­nie heisst, Lange­weile, viel­leicht sogar Gefan­gen­sein. Wir wollen hin an einen Ort, an dem die Tage unvor­her­seh­bar sind und wir frei. Wir wollen neue Reize, bloss keine Gewöh­nung. Kein Ort kann diesen Ansprü­chen auf Dauer gerecht werden – darum müssen es immer wieder neue Orte sein.

Die Psycho­lo­gen Klaus Dieter Hart­mann und Gudrun Meyer beschrei­ben es so: «Der zeit­wei­lige Wech­sel der Reize stei­gert die Aufnah­me­fä­hig­keit und hebt das ener­ge­ti­sche Niveau der Reak­tio­nen. Dasselbe gilt dann, wenn man vom Urlaub zurück­kommt und die ‹alten› Reize ‹neu› erfährt, bis nach länge­rer Zeit der Gewöh­nungs- und Sätti­gungs­ef­fekt wieder eintritt.»

Immer wenn ich mit Freun­den durch Tübingen laufe, versi­chere ich ihnen, ich hätte wirk­lich versucht, hier anzu­kom­men. Ein Blick in mein Zimmer lässt mich zwei­feln, ob das wirk­lich stimmt. Die Wände sind weiss. Zwei Koffer stehen auf dem Schrank, eine grosse Reise­ta­sche auf dem Boden, dane­ben ein klei­ner Ruck­sack. Ich bräuchte zwei Stun­den, um all meine Sachen zu packen.

Vom Suchen

Frei­tag, 30. August: Ich laufe zum Zug, quet­sche mich vorbei an Touris­ten, die Häuser­fas­sa­den foto­gra­fie­ren. Den Weg zum Bahn­hof würde ich vermut­lich auch blind finden, doch die Zeit, die ich dahin brau­che, unter­schätze ich meis­tens. Um 8.35 Uhr geht mein Zug nach Bern.

Frei­tag, 6. Septem­ber: Ich laufe zum Zug, quet­sche mich vorbei an Touris­ten, die Häuser­fas­sa­den foto­gra­fie­ren. Um 7.00 Uhr geht mein Zug nach Heil­bronn, um 16.57 Uhr der nach Inns­bruck. Zwei Tage später fahre ich nach Buda­pest, fünf Tage danach nach Berlin.

Montag, 16. Septem­ber: Ich schlurfe vom Bahn­hof nach Hause, quet­sche mich vorbei an Touris­ten, die Häuser­fas­sa­den foto­gra­fie­ren. Es ist noch hell, als ich zu Hause ankomme. Ich ziehe die Vorhänge zu.

Mittwoch, 25. Septem­ber: Ich laufe zum Zug, quet­sche mich vorbei an Touris­ten, die bunte Häuser­fas­sa­den foto­gra­fie­ren. Um 9.37 Uhr geht mein Zug nach Hamburg. Ich tippe eine Nach­richt an eine Freun­din: «Bin gegen 17 Uhr da – wenn alles gut geht.» Diesen Zusatz benut­zen alle Reisen­den in Deutsch­land.

Als ich am Montag­mor­gen, 30. Septem­ber, gegen 6 Uhr in Tübingen aus dem Nacht­zug steige, kann ich meine Beine kaum noch dazu bewe­gen, die Trep­pen zu meiner Wohnung im zwei­ten Stock hoch­zu­stei­gen. Mein stei­fer Nacken ermahnt mich, nie wieder einen Nacht­zug zu buchen. Als ich endlich in meinem Bett liege – der Wecker bietet mir fünf Stun­den an – und nicht einschla­fen kann, schwöre ich mir, dass ich am nächs­ten Wochen­ende in Tübingen bleibe.

Als ein Freund mich fragt, ob ich mit ins Tessin komme, über­lege ich hin und her. Als er mir ein Foto schickt vom Luga­n­er­see, kann ich dem Impuls nicht wider­ste­hen, nach Zugti­ckets zu googeln. Schla­fen, denke ich, könnte ich auch im Zug. Es gibt eine Krank­heit, die meine Gene­ra­tion befällt. Sie setzt sich zusam­men aus vier Buch­sta­ben und einer gros­sen Angst: FOMO – Fear of miss­ing out. Die Angst, etwas zu verpas­sen. Die Angst, es könnte mehr geben irgendwo – oder etwas Besse­res. Diese Angst verwan­delt uns in Rast­lose und scheucht uns bis an die Enden der Welt. Aus meinem Ruck­sack krame ich einen Notiz­zet­tel, auf den ich geschrie­ben habe: «Ich reise, weil ich will, dass was passiert. Ich kann es nicht ertra­gen, daheim zu sitzen, während die Welt an mir vorüber­zieht.» Ich muss die Sätze im Dunkeln geschrie­ben haben, was sonst noch auf dem Zettel steht, kann ich nicht entzif­fern.

Beim Schrift­stel­ler Matthias Poli­ty­cki lese ich: «Der Reisende ist der Suchende per se, und was er auf seiner Suche auch findet, es spornt nur zu weite­rer Suche an. Im Grunde sind wir auf immer­wäh­ren­der Reise, die Zeit zu Hause ist nichts als kurze Rast.» Diese Sätze sind einem Freund aus Zürich wie aus der Seele geschrie­ben. Als ich ihn anrufe, ist er gerade zurück aus Japan. Er lebt in einem Einein­halb-Jahres-Rhyth­mus: nie länger als einein­halb Jahre in dersel­ben Wohnung, im selben Job, mit dersel­ben Freun­din. Es spielt sich immer unge­fähr gleich ab: Die ersten sechs Monate ist man heftig verliebt, in die neue Freun­din, den neuen Job, die neue Wohnung. Dann kommt man lang­sam an, und nach einem Jahr begin­nen die Zwei­fel. Seine einzige Angst: Still­stand. Er mag es, beim Aufste­hen nicht zu wissen, wie der Tag verlau­fen wird. Er sagt: «Es ist anstren­gen­der zu blei­ben – weiter­zu­zie­hen ist die einfa­che Vari­ante.»

In den vergan­ge­nen zwan­zig Jahren ist welt­weit die Zahl der Menschen, die ins Ausland reisen, von 605 Millio­nen auf 1,4 Milli­ar­den gestie­gen, steht in einem Bericht des deut­schen Bundes­mi­nis­te­ri­ums für Wirt­schaft und Ener­gie. «Menschen wollten immer schon reisen, die Nach­frage ist in den vergan­ge­nen Jahren gestie­gen, weil mehr Menschen reisen können. Dem West­eu­ro­päer steht die Welt offen», sagt der Wirt­schafts­psy­cho­loge Martin Lohmann. Er ist Bera­ter der Forschungs­ge­mein­schaft Urlaub und Reisen (FUR) und unter­sucht seit dreis­sig Jahren das Reise­ver­hal­ten der deutsch­spra­chi­gen Wohn­be­völ­ke­rung ab 14 Jahren.

Die häufigs­ten Motive, warum sie reisen: Sonne, Abstand zum Alltag, Entspan­nung, Kraft sammeln, frei sein. Frei zu sein ist das häufigste Motiv der 14- bis 29-Jähri­gen, es folgen Entspan­nung, Abstand vom Alltag und viel erle­ben, viel Abwechs­lung. Wir reisen in die Fremde, weil wir suchen, was es ausser­halb der eige­nen Umwelt so gibt, wir suchen Aufre­gung, Nerven­kit­zel, eine neue Perspek­tive, neue Antwor­ten auf alte Fragen. Dafür nehmen wir in Kauf, stun­den­lang in viel zu engen Sitzen zu verbrin­gen, in weni­gen Tagen Zehn­tau­sende von Schrit­ten zu machen, weil wir inner­halb eines verlän­ger­ten Wochen­en­des all das sehen wollen, wofür ein Monat nicht reichen würde. Wir geben ein Stück­chen Sicher­heit auf, weil wir an neuen Orten nicht wissen, was uns erwar­tet, weil das Leben dort anders funk­tio­niert. Wir nehmen hohe Kosten hin, schliess­lich geht es um Erleb­nisse, die unbe­zahl­bar sind. Damit das Gepäck nicht zu schwer wird, spei­chern wir unsere Leben auf unse­ren Smart­phones. So können wir von über­all durch Erin­ne­run­gen an die Menschen scrol­len, die wir zurück­las­sen, wir können ihre Nummern wählen, wenn wir uns einsam fühlen und jeman­dem erzäh­len wollen, wie viel wir unter­wegs erle­ben.

Der Psycho­loge Marvin Zucker­man defi­nierte die Theo­rie des sensa­tion seeking: Sensa­ti­ons­su­cher jagen nach verschie­de­nen, neuen, inten­si­ven Eindrü­cken und sind bereit, physi­sche, soziale und finan­zi­elle Risi­ken dafür auf sich zu nehmen. Für mich ist Reisen mehr als die Suche nach Sensa­tio­nen, für mich ist es immer auch eine Art Weglau­fen. Weil ich mich nicht damit ausein­an­der­set­zen will, was zu Hause wartet. Weil dort die Frage steht: Wie will ich leben? Wo und mit wem? Weil dort die Frage steht: Wo gehöre ich hin?

Vom Sich-Verir­ren

Es gibt Gefühle, die man erst bemerkt, wenn sie nicht mehr da sind. Ich habe nie bewusst wahr­ge­nom­men, dass ich irgendwo hinge­hörte. In ein Land. Zu einer Gruppe von Menschen. Ich habe es nie infrage gestellt. Bis es mir fehlte. Es war eine Mischung aus Heim­weh und Einsam­keit, die sich Mitte des vergan­ge­nen Jahres in mir ausbrei­tete. Manch­mal, wenn ich aufwachte, bevor es hell war, sah ich mich erschro­cken um. Ich brauchte einen Moment, um mich zu erin­nern, wo ich war – weil sich der Blick aus dem Fens­ter, die Farbe der Gardi­nen, der Einfalls­win­kel des Tages­lichts im vergan­ge­nen Jahr so oft geän­dert hatten. Ich bekam das Gefühl, dass ich hier nicht hinge­höre.

Im Fran­zö­si­schen lässt sich dieses Gefühl in ein Wort über­set­zen: dépay­se­ment. Pays bedeu­tet «Land», dépay­ser «verun­si­chern» oder «verwir­ren». Dépay­se­ment bezeich­net eine Art von Desori­en­tie­rung, die man in einem frem­den Land erfährt. John Vino­cur, ein Autor der «New York Times», beschreibt es als das Gefühl, nicht erdrückt zu werden von der Vertraut­heit der Dinge. Viel­leicht ist es genau das, was mir fehlt: die Vertraut­heit der Dinge. Darum koche ich Südti­ro­ler Gerichte, meine Gers­ten­suppe schmeckt mitt­ler­weile fast so gut wie die meines Vaters, und kaufe über­teu­er­tes Schüt­tel­brot. Ich tele­fo­niere stun­den­lang mit Südti­ro­ler Freun­den, um Dialekt spre­chen zu können. Viel­leicht ist es selek­tive Wahr­neh­mung, doch über­all liegen Zeit­schrif­ten und Bücher, die sich nur mit einem Thema zu beschäf­ti­gen schei­nen: Heimat.

Ich lese das Buch «Tribe» von Sebas­tian Junger und bleibe an einem Absatz hängen: «Wer in einer moder­nen Stadt oder Vorstadt lebt, kann zum ersten Mal in der Geschichte einen ganzen Tag – oder ein ganzes Leben – verbrin­gen und dabei über­wie­gend völlig frem­den Menschen begeg­nen. Er kann von ande­ren umge­ben sein und sich dennoch zutiefst und bedroh­lich einsam fühlen.» Dieser Entfrem­dung stellt der Sozio­loge Hart­mut Rosa einen Begriff entge­gen: Reso­nanz. «Reso­nanz ist ein Zustand, eine Art und Weise des Verbun­den­seins mit der Welt, bei der tatsäch­lich in uns so was zu schwin­gen beginnt», sagt er in einem Inter­view im Deutsch­land­funk.

Reso­nanz ist, eine Art Heimat­raum finden, ein Sich­ein­las­sen auf die Welt – das passiert nicht, wenn man stän­dig von Ort zu Ort reist. Laut Rosa gibt es zwei Orien­tie­run­gen, die wir verfol­gen: «Das eine ist die Stei­ge­rungs­ori­en­tie­rung, also noch ein biss­chen mehr errei­chen, ein biss­chen mehr krie­gen, auch ein biss­chen mehr machen aus der Welt; das andere ist, Reso­nanz­ach­sen aufrecht­zu­er­hal­ten.» Reso­nanz­ach­sen, das können Bezie­hun­gen sein, vertraute Gefühle, Musik oder Orte. Sie können uns einengen, aber sie geben Halt und Stabi­li­tät. Sie schaf­fen einen Ort, an den wir zurück­kom­men können.

Vom Zurück­keh­ren

Ich halte nichts von Kalen­der­sprü­chen, doch einer hat mich die vergan­ge­nen Jahre über beglei­tet: «Ausser­halb deiner Komfort­zone wirst du wach­sen.» Er hat mich ange­trie­ben, wegge­führt. Ich habe den Spruch als Ausrede benutzt, um mir nicht einge­ste­hen zu müssen, dass es eigent­lich das Nach­hau­se­fah­ren war, das ausser­halb meiner Komfort­zone lag. In den Näch­ten, bevor ich nach Hause fuhr, konnte ich nicht schla­fen. Schon Wochen davor verab­re­dete ich mich mit Freun­den, damit ich unter allen Umstän­den beschäf­tigt war und unan­ge­neh­men Fragen von Bekann­ten auswei­chen konnte, die wissen wollten, wann ich denn heira­ten und sess­haft werden würde, oder unan­ge­neh­men Begeg­nun­gen mit ehema­li­gen Freun­den, von denen ich mich emotio­nal entfernt hatte.

«Jede Reise ist ein Flucht­ver­such aus dem Gefäng­nis der Iden­ti­tät», schreibt der Schrift­stel­ler Hans Chris­toph Buch. Mein nächs­ter Flucht­ver­such führt mich an den Ort, vor dem ich geflo­hen bin. Nach Hause. Ich besu­che meine Freun­din Maria Laura, 30, Yoga­leh­re­rin. Jahre­lang hat sie aus dem Ruck­sack gelebt. Vor weni­ger als einem Jahr ist sie in eine Wohnung in Südti­rol gezo­gen, obwohl sie niemals zurück­wollte. Sie scrollt durch die Fotos auf dem Handy. Austra­lien, Indien, Bali, Corn­wall, sie sagt: «Gerade tut es mir gut, ein Zuhause zu haben, wo ich die Wege kenne. Ein Zuhause, das Halt gibt und das Gefühl, nicht nur Gast zu sein.» Sie steht unter einer Glüh­birne ohne Lampen­schirm, auf nack­tem Boden. Sie sagt: «Ich weiss nicht, ob es sich lohnt, Lampen­schirme zu kaufen oder einen Läufer. Ich weiss nicht, ob ich so lange hier bleibe. Oder ob das der letzte Ort ist, an dem ich lebe.» Zwei Wochen nach unse­rem Gespräch reist sie nach Bali.

Es ist noch nicht so lange her, drei Jahre viel­leicht, da habe ich diese Faszi­na­tion fürs Reisen nicht verstan­den. Damals lebte ich noch in Südti­rol und hatte nur selten das Bedürf­nis, das Land, in dem ich aufge­wach­sen bin, zu verlas­sen. Menschen, die von Fern­weh rede­ten und Reisen als eines ihrer Hobbys anga­ben, habe ich nie verstan­den. Wenn sie mir erzähl­ten, wie sehr sie sich in frem­den Ländern weiter­ent­wi­ckelt hätten, verdrehte ich meine Augen. Ich verstand nicht, wonach sie such­ten. Viel­leicht, weil ich glaubte, ich hätte es längst gefun­den: den Ort, an dem ich leben wollte, die Menschen, mit denen ich leben wollte. Und den Mann. Dann trenn­ten wir uns. Und ich konnte nicht mehr sein, wo wir waren.

Kurz danach fand ich eine erträg­li­che Distanz: einen Ozean Abstand. Ich erin­nere mich an das gross­ar­tige Gefühl, als ich auf dem Boden des New Yorker Flug­ha­fens stand und der grim­mige Typ von der Einrei­se­kon­trolle mich durch­liess. Die Tage und Nächte fühl­ten sich so unwirk­lich an, als wäre ich in einer Schnee­ku­gel. Zum ersten Mal wurde mir klar: Ich kann mich allein zurecht­zu­fin­den in der Fremde. Mein Liebes­kum­mer holte mich wieder ein, als ich zurück nach Europa flog und der Abstand zwischen mir und dem, wovor ich wegge­lau­fen war, klei­ner wurde. «Flucht führt eher zu einer stän­di­gen Sehn­sucht nach einem Zuhause, das aber nega­tiv besetzt ist. Man bleibt immer ein Reisen­der», erklärt mir die Psycho­lo­gin Made­leine Leit­ner. Es dauerte eine Weile, bis ich mir einge­stand: Mein emotio­na­ler Ruck­sack löst sich nicht auf, nur weil ich mir keine Zeit zum Nach­den­ken gebe.

Ein Freund sagt: «Lass los. Verzeih dir selbst, dann kannst du ankom­men.» Ich sage, ich weiss nicht, wie das geht. Die Wahr­heit ist: Es gab eine Zeit, in der ich dachte, ich sei ange­kom­men. Das Gefühl hat mich einge­engt und auf der Stelle gehal­ten. Darin schwang etwas Dauer­haf­tes mit, das mir Angst machte. Es fühlte sich an, als würde ich inmit­ten eines Laby­rinths aus meter­ho­hen Hecken stehen. Mit jeder Reise schlug ich ein Stück Weg in das Gebüsch. Irgend­wann war ich draus­sen. Seit­dem werde ich das Gefühl nicht los, ich habe etwas Wich­ti­ges verges­sen da drin – und der Weg zurück ist zuge­wach­sen.

Vom Ankom­men

Die Antwor­ten auf meine Frage, was denn «ankom­men» bedeu­tet, kommen erst nach Minu­ten – manch­mal dauert es Tage. Oder sie blei­ben ganz aus.

«Ankom­men heisst, genau wissen, dass das der rich­tige Ort ist, ohne es begrün­den zu können», sagt meine Freun­din Nora.

«Ankom­men bedeu­tet für mich nach den Jahren von Studium, was lernen, sich auspro­bie­ren, hier­hin und dahin reisen, zu schauen, was ich eigent­lich für ein Mensch bin, was ich will im Leben – also jeden­falls jetzt, zu diesem Zeit­punkt – und auch was für Menschen ich in meinem Leben haben möchte und welche nicht», sagt Katha­rina.

«Ankom­men musst du in dir selbst», sagt Maria Laura, die Yoga­leh­re­rin. «Es besteht darin, im Hier und Jetzt zu leben. Oder den verdamm­ten Läufer zu kaufen.»

«Ankom­men kann man viel­leicht, wenn man das Gefühl hat, nichts mehr zu verpas­sen», antwor­tet die Psycho­lo­gin Made­leine Leit­ner.

«Ankom­men verlangt nach dem Unter­wegs­sein. Es ist ein vorüber­ge­hen­der Zustand, so wie wenn man am Gipfel eines Berges ankommt und in dem Moment einfach nur da ist. Diesen Moment kann man spei­chern als Erin­ne­rung, doch er wird nicht blei­ben. Das wäre auch beängs­ti­gend», sagt der Psycho­loge Martin Lohmann.

«Ankom­men heisst, aus dem Zug stei­gen, und jemand holt mich ab», sagt meine Schwes­ter. Sie fragt mich, was es denn für mich bedeu­tet. Ich spule die Stan­dard­ant­wort meiner Gene­ra­tion ab: «Das versu­che ich erst raus­zu­fin­den.» Bevor ich anfing, diesen Text zu schrei­ben, habe ich notiert, was ich brau­che, um anzu­kom­men. Zwei Punkte habe ich aufge­schrie­ben: einen eige­nen Raum haben und Leute um mich, die mich verste­hen – am besten dialekt­tech­nisch und emotio­nal.

Nun schaue ich mir diese Punkte wieder an und über­lege, ob noch etwas dazu­ge­kom­men ist. Gute Erin­ne­run­gen, viel­leicht. Und ich muss es wirk­lich wollen. Denn anzu­kom­men ist auch eine Entschei­dung. Aber eine, die wir nur wider­wil­lig und nicht endgül­tig tref­fen wollen. Wir geben auswei­chende Antwor­ten, fügen in unsere Sätze Rela­ti­vie­run­gen ein und sagen: zurzeit, jetzt gerade, das kann sich ändern. Viel­leicht ist Ankom­men eine Sehn­sucht, die wir gar nicht errei­chen wollen.

In meinem Zimmer in Tübingen sitzend, habe ich Angst davor, ein Ende zu finden für diesen Text. Weil das bedeu­ten müsste, ich habe gefun­den, wonach ich suchte. Ich müsste doch eine Antwort haben. Müsste ich nicht ange­kom­men sein?

Die Frage spinnt sich durch meine Gedan­ken, während ich Bilder an die Wand meines Zimmers hänge. Es sind keine Bilder von Orten, sondern von Menschen, die mir etwas bedeu­ten. In den kommen­den Wochen werden noch mehr dazu­kom­men. Ich hole einen der beiden Koffer von meinem Schrank und drücke auf «Play».

Henning May von der Band Annen­May­Kan­te­reit singt: «Und ich habe Fern­weh ohne Ende, Fern­weh für das Fremde, weil ich mir selber fremd gewor­den bin.»

(Dieser Text ist erst­mals erschie­nen
am 25.01.2020 in «Das Maga­zin»)

(Dieser Text ist erst­mals erschie­nen am 25.01.2020 in «Das Maga­zin»)

Lissi Pörn­ba­cher
arbei­tet beim Science Notes Maga­zin
und sorgt dafür, dass gesell­schaft­li­che Themen im Wissen­schafts­ma­ga­zin nicht zu kurz kommen. Sie studierte Germa­nis­tik und Philo­so­phie in Inns­bruck und arbei­tete bei so ziem­lich allen Zeitun­gen und Maga­zi­nen im Südti­rol. Nach dem Studium schrieb sie unter ande­rem für Zeit Wissen, die Süddeut­sche Zeitung und Das Maga­zin.

Lissi Pörn­ba­cher arbei­tet beim Science Notes Maga­zin und sorgt dafür, dass gesell­schaft­li­che Themen im Wissen­schafts­ma­ga­zin nicht zu kurz kommen. Sie studierte Germa­nis­tik und Philo­so­phie in Inns­bruck und arbei­tete bei so ziem­lich allen Zeitun­gen und Maga­zi­nen im Südti­rol. Nach dem Studium schrieb sie für Zeit Wissen, die Süddeut­sche Zeitung und Das Maga­zin.