«Der Käptʼn bin ich!»

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«Lock­down – Tage­buch aus einer neuen Zeit»
Was bewegt uns in Zeiten von Corona? Sarah Gärt­ner liest in der Berli­ner Selbst­qua­ran­täne aus ihrem Tage­buch: Betrachtungen über Toilet­ten­pa­pier, System­re­le­vanz, epische Putz­an­fälle und Delphine in Vene­dig.

Lock­down, Tag 31
Nach alter Zeit­rech­nung: Mittwoch, 15. April

«Ich bin verwirrt», schrei­ben mir Freunde. «Ich bin dünn­häu­tig. Es ist alles so surreal. Abends ist es am schlimms­ten, das Allein­sein. Mich verlässt lang­sam der Mut.» Ich lese das und drehe an meinem Ring. Mir fällt auf, dass ich das oft tue in der letz­ten Zeit.

Ich trage diesen Ring, ein schlich­tes Silber­band mit einem klei­nen einge­fass­ten Opal, seit Jahren Tag und Nacht. Der Stein ist mitt­ler­weile vom vielen Tragen stumpf gewor­den. Wenn das Licht im rich­ti­gen Winkel drauf­fällt, kann man sie trotz­dem noch erken­nen, eine winzige halb­mond­för­mige Bucht, umspült von einem klei­nen Ozean. Mein Meer in einer Nuss­schale. Der Ring erin­nert mich an wunder­bare Tage in meinem Leben – und an eine der besten Nächte. Die Erin­ne­rung trägt bis ins Heute hinein: Manch­mal gelingt es mir, zurück­zu­den­ken und mich erneut daran aufzuladen.

Im Winter vor eini­gen Jahren, im Sommer, da, wo ich bin: Ich wandere einem lang­ge­zo­ge­nen Strand entlang, in einer einsa­men Bucht mit dem klin­gen­den Namen «Wineglass Bay», auf einer klei­nen Insel am ande­ren Ende der Welt. Ich bin seit sechs Stun­den allein unter­wegs, auf meinem Rücken drückt das Zelt, und was ich suche, am entle­ge­nen Ende dieser Bucht, ist genau das: Das Allein­sein. Ich suche das Aben­teuer mit mir selbst in der Wild­nis. Ich tue das zum ersten Mal und freue mich so sehr, wie ich Respekt habe. Es gibt hier draus­sen nur wenige Spuren der Zivi­li­sa­tion. Das eine oder andere Schild verweist auf Bush­tracks, die tiefer in den Wald hinein­füh­ren. Keine Stras­sen, kein Handy­emp­fang. Ich schlage mein Zelt auf, zwischen Büschen, am Wald­rand, mit Blick auf das Meer. Die Sonne steht schon tief. Ich wate ins Wasser, das glas­klar ist und tief­blau und ziem­lich kalt. «Wenn jetzt zuhause jeman­dem etwas passiert, werde ich es nicht erfah­ren.» Ein Gedanke, der mich aus dem Nichts befällt. Es ist aber auch so rich­tig still, da hört man die eige­nen Gedan­ken beson­ders gut.

Ich setze mich vor meinem Zelt in den Sand und esse Thun­fisch aus der Dose. Meine Knöchel sind geschwol­len und meine Schul­tern schmer­zen, ein wohli­ger Schmerz, der von einem bestan­de­nen Aben­teuer erzählt. Der Abend spannt sich über die Bucht, erste Sterne blin­ken auf. Ich ziehe das Moski­to­netz zu und lege mich hin, mit Blick in den Himmel. «Wunder­schön», denke ich und dämmere weg.

Ein lang­ge­zo­ge­ner Schrei aus dem Wald weckt mich. Was war das? Es ist jetzt dunkel, aber nicht gänz­lich: Am Firma­ment platzt die Gala­xie aus allen Nähten, ein fieb­rig pulsie­ren­der Ster­nen­him­mel, und aus dem Wald kommen weitere Schreie. Das ist doch sicher nur irgend ein harm­lo­ses Tier? Ein Krei­schen, diesmal aus nächs­ter Nähe. Irgend etwas zerrt an meinem Zelt. Ich erstarre. «Ich werde heute Nacht hier ster­ben», denke ich. «Einsam und allein. Eine wilde Bestie wird mich reis­sen, oder ein durch­ge­knall­ter Mensch mich meucheln, und niemand wird es erfah­ren.» Das Fauchen, Krei­schen, Zerren geht weiter. Ich habe Angst, und zu allem Über­fluss drückt jetzt auch noch die Blase. «Es war eine Scheiss­idee, hier alleine herzu­kom­men!» denke ich. «Was hab ich mir bloss dabei gedacht? Wenn ich das über­lebe, haue ich ab, sobald die Sonne aufgeht!» Krei­schen, Zerren, Schreie aus dem Wald, mein Herz rast. Gedan­ken schla­gen wie Wellen über mir zusam­men. «Hätte ich doch!» Und: «Hätte ich doch bloss nicht!» Meine Blase sticht, es wird uner­träg­lich. «Ich werde heute Nacht hier ster­ben und mir dabei in die Hose machen», denke ich.

Und das kommt, verdammt noch­mal, über­haupt nicht in Frage! Ich greife nach meiner Taschen­lampe und trete grim­mig aus dem Zelt, auf alles gefasst. Das Krei­schen erstirbt, der Licht­strahl meiner Taschen­lampe fällt auf einen Ast. Dort sitzt ein klei­nes katzen­ar­ti­ges Tier­chen mit gros­sen Augen, das mindes­tens so verschreckt drein­schaut wie ich. Ich mache mir schon wieder fast in die Hose, diesmal vor Lachen.

Ich schaue in Ruhe nach, woran das Katzen­tier gezerrt hat. Mein Ruck­sack war’s. Die halb­leere Thun­fisch­dose in meinem Ruck­sack. Ich verschliesse ihn anstän­dig, danach ist Ruhe im Karton. Mein Herz­schlag beru­higt sich, ich schaue in den Himmel und denke: «Ich haue hier morgen nicht ab, nicht mit diesem Gefühl! Ich möchte mich an diesen Ort mit einem schö­nen Gefühl erin­nern. Jetzt bleibe ich erst recht!»

Und das tue ich dann auch. Ich bleibe, im Wissen, dass weiter­hin alles Mögli­che passie­ren kann. Hier und anderswo. Ich habe keine Kontrolle darüber. Aber mein Gefühl für die Dinge, die passie­ren, mein Gefühl für die Menschen, an die ich denke, egal, wie weit sie weg sein mögen, das kann ich lenken, das gehört mir. Ich bin der Käpt’n auf diesem Schiff! Diese Gewiss­heit brei­tet sich in mir aus mit einer solchen Kraft, dass ich mich für die nächs­ten Tage und Wochen unver­wüst­lich fühle.

Ein ande­rer Teil­zeit-Eremit leis­tet mir Gesell­schaft und erklärt mir, dass das fauchende Katzen­tier ein Opos­sum war und das schrei­ende Wesen aus dem Wald ein Kooka­burra, ein harm­lo­ser klei­ner Vogel mit necki­schen Stirn­fran­sen. Wir trin­ken Tee, Kaffee wäre mir lieber gewe­sen, aber diese Austra­lier und ihre Liebe zum Tee! Immer­hin hat er, im Gegen­satz zu mir, einen Gasko­cher dabei, ich kann sogar meine Dosen­boh­nen warm machen. Mit einer Schüs­sel voll warmer Bohnen, und es gibt nichts Schö­ne­res an einem kühlen Morgen, nach einer Nacht auf einer brett­har­ten Zelt­matte, wate ich ins Wasser, um einen neugie­ri­gen Rochen zu begrüs­sen. Als ich die Wein­glas­bucht zwei Tage später verlasse, ist sie nicht der Ort der Dunkel­heit und der Mons­ter, zu dem sie leicht hätte werden können, sondern der schönste Flecken Erde der Welt. Ich bin noch viele Wochen unter­wegs und begegne vielen Orten, die Schat­ten werfen, aus denen Mons­ter treten könn­ten. Ich habe aber kein Inter­esse.

Und als ich, am Ende meiner Reise, auf einem Markt in Hobart diesen Ring finde, mit einer klei­nen Bucht in einer Nuss­schale aus Opal, wird er zum Insi­gnium für meine kleine nächt­li­che Einge­bung.

«Ich bin dünn­häu­tig», schrei­ben meine Freunde. «Ich verliere lang­sam den Mut.» Es gibt gerade viele Nächte, die dazu verlei­ten könn­ten, den Mut zu verlie­ren, abhauen zu wollen, wohin auch immer, jeden­falls weg aus diesem Zustand. Es gibt gerade viele Orte, die Schat­ten werfen, aus denen Mons­ter treten könn­ten. Mir hilft das Prinzip des Perspek­tiv­wech­sels. Ich kann mir die Gewäs­ser, die ich durch­segle, nicht immer aussu­chen, aber der Käpt’n bin ich. Und die Kraft, die ich spürte, sie ist über­all, jeder Funke davon ist mir Antrieb. «Wer liebt», beschliesst ein Freund unse­ren Austausch, «leidet erträg­li­cher.» Und, als klei­ner Tipp: «Setzt den Fuss gele­gent­lich in den Himmel. Er trägt.»

Kultur­tipp: Der Opal-Stein ist ein guter Helfer in der Not. Und er ist auch einfach sehr schön anzu­schauen, insbe­son­dere für Menschen, die das Meer vermis­sen: Helfer in der Not und Meer im Taschen­for­mat, besser geht’s nicht.

©  Sarah Gärt­ner