Das Alte ist am Vergehen, das Neue hat noch nicht begonnen. Unsere Zukunft entscheidet sich jetzt. Warum die Utopie die einzige Option für Veränderung ist.
Es ist, als lebten wir gerade noch in einer anderen Welt. Wo Hyperpragmatismus regierte, die Menschen wie erstarrt schienen im neoliberalen Status quo. Noch immer klang der westlichen Welt wie ein Glockenschlag das Versprechen von Margaret Thatcher im Ohr: «T-I-N-A. There is no alternative.» Sie haben Visionen? Gehen Sie zum Arzt.
Und dann begann jener Sommer, der in der Schweiz als Wendepunkt in die Geschichte eingehen wird. Eine neue Politisierung erfasste das Land. Zehntausende Kinder und Jugendliche schlossen sich der weltweiten Klimabewegung an und trugen ihre Sorgen lautstark in die Städte. «Wäm sini Zuekunft? Öisi Zuekunft!», hallte es durch die Strassen. Und, radikaler: «System change – not climate change!» In wenigen Monaten entstand die grösste Jugendbewegung der Schweizer Geschichte. Zeitgleich formierte sich eine neue Frauenbewegung, die im Juni 500’000 Menschen auf die Strasse brachte. Auch sie fordern einen grundlegenden Wandel: unbedingte Gleichstellung, ein Ende der Diskriminierung und einen Umbau des kapitalistischen Systems. Im Herbst folgten in der Schweiz die nationalen Wahlen und mit ihnen die grössten parteipolitischen Verschiebungen, welche der Schweizer Bundesstaat je erlebt hat. Mehr Frauen, mehr Grün!
Weltweit gab es noch nie so viele Proteste wie 2019. Von Hong-Kong über Rom bis Santiago de Chile – Millionen Menschen gehen auf die Strassen und wollen Veränderung, Freiheit, Arbeit, gerechte Löhne, ein Ende der Umweltzerstörung.
Welche Zukunft wollen wir? Diese Frage dominiert zunehmend den öffentlichen Diskurs. Und mit ihr kommt ein Begriff in die Öffentlichkeit zurück, der lange verschwunden war: Utopie. Ein Begriff, so mächtig wie verpönt. Der für den Willen nach einer besseren Welt steht und in den vergangenen Jahrzehnten in Ungnade gefallen war. Wörtlich aus dem Altgriechischen übersetzt heisst Utopie so viel wie «Un-Ort». Der Duden beschreibt den Begriff als «undurchführbar erscheinender Plan; Idee ohne reale Grundlage». Eine ziemlich negative Beschreibung. Dabei waren es seit jeher die Utopisten, welche die menschliche Zivilisation vorwärtsbrachten. Es ist Zeit für eine Rehabilitation.
Kein Vertrauen in die Politik
In grossen Schritten nähert sich die Menschheit dem, was die Wissenschaft als Klimakatastrophe bezeichnet. Gelingt es uns nicht, den CO2-Ausstoss innerhalb der nächsten zehn Jahre auf ein Minimum zu reduzieren, könnte die Welt, wie wir sie kennen, für immer verschwinden. Die Wissenschaft warnt seit über zwanzig Jahren vor der einzigartigen Bedrohung durch den Klimawandel. Dennoch hat die Politik es bisher weltweit verpasst, die notwendigen Massnahmen zu treffen.
Der Klimawandel ist die grösste, aber nicht die einzige Gefahr, die unsere Freiheit bedroht. Mit der fortschreitenden Digitalisierung geraten Millionen von Arbeitsplätzen unter Druck. Laut extremen Schätzungen ist in Westeuropa jede zweite Stelle bedroht. Zugleich nimmt die Ungleichheit weltweit weiterhin zu und gefährdet den sozialen Frieden. Ob es gelingen wird, diese Herausforderungen mit dem Klein-Klein der politischen Routinemaschinerie zu bewältigen? Es sieht nicht danach aus.
An Ideen, wie eine gerechtere und ökologisch nachhaltige Gesellschaft erreicht werden könnte, fehlt es nicht. Das zeigen zahlreiche progressive Vorstösse, von 1:12 über ein bedingungsloses Grundeinkommen bis zur Gletscher-Initiative. Die Liste liesse sich fortsetzten: gleicher Lohn für Frauen und Männer, Stimmrecht für Menschen ohne Schweizer Pass und bezahlbarer Wohnraum für alle. Fast alle stammen von Akteuren aus der Zivilgesellschaft.
Während auf den Strassen der Ruf nach Veränderung immer lauter klingt, sinkt das Vertrauen in die Politik. Nicht nur in Deutschland oder den USA, auch in der Schweiz, wie das kürzlich erschienene Sorgenbarometer des Forschungsinstituts gfs.bern zeigt. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen ist eingebrochen. Fast die Hälfte der Stimmberechtigten glaubt, dass die Politik in entscheidenden Dingen versage. Die Studienautoren sprechen von «Politikverdrossenheit».
Erstaunlich ist das nicht. Über die vergangenen zwanzig Jahre sind der etablierten Politik auf nationaler Ebene kaum noch entscheidende Fortschritte gelungen. Die Parteien in der Schweiz wirkten, mit Ausnahme der rechtspopulistischen SVP und der Jungsozialisten, zögerlich und ideenlos. Die letzte grosse Errungenschaft des Schweizer Sozialstaats war die Einführung der Mutterschaftsversicherung im Jahr 2005. Die SP schrieb 2010 als Fernziel die Überwindung des Kapitalismus ins Parteiprogramm, strich es aber wenig später wieder heraus. Zu laut war die Kritik. Neue Gesellschaftsentwürfe, utopische Ideen im Sinne einer grundlegenden Verbesserung des Bestehenden? Fehlanzeige.
Die bürgerlichen Parteien haben indessen die soziale Komponente fast vollständig aus den Augen verloren und sich komplett neoliberalen Glaubenssätzen ergeben. Erhöhung des Rentenalters, neue Kampfjets, Unternehmenssteuerreform – es zeigt sich so deutlich wie noch nie, dass den konservativen Kräften Antworten auf die drängendsten Fragen unserer Zeit fehlen. Nicht nur, weil sie den Klimawandel und die wachsende Ungleichheit über Jahre ignoriert oder gar geleugnet haben. Es ist jener ungezügelte Markt, der die Menschheit erst dorthin gebracht hat, wo sie heute steht. Die Massenproteste in Chile, die ertrinkenden Menschen in Mittelmeer, die wütenden Buschfeuer in Australien – sie alle sind die Folgen eines Systems, das die Umwelt zerstört und absurd reiche Gewinner auf Kosten von Millionen von Verlierern produziert. Während die Automobilhersteller zur Jahreswende nochmals schnellere, stärkere und exklusivere SUVs auf den Markt bringen, ganz so als gäbe es kein Morgen.
Triebfeder des Wandels
Um zu verstehen, was Utopien in der heutigen Zeit leisten könnten, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit, ins Europa des frühen 16. Jahrhunderts. Klerus und Adel herrschten über die Landbevölkerung und beuteten diese gnadenlos aus. Aus Italien verbreitete sich der Geist der Renaissance langsam nordwärts und in England publizierte der englische Gelehrte Thomas Morus seinen legendären Text «Utopia». Hauptfigur ist ein Seefahrer, der nach langer Reise zurückkehrt und von einer weit entfernten Insel erzählt. Die Insel mit dem Namen Utopia ist ein Gegenentwurf zur englischen Gesellschaft der damaligen Zeit. Auf ihr leben die Menschen in sozialer Gleichheit. Der Wohlstand ist gleichmässig verteilt, Privateigentum gibt es keines. Insgesamt produzieren die Bewohner mehr, als sie zum Leben brauchen. Arbeiten müssen alle, doch niemand mehr als sechs Stunden am Tag. Es herrscht Demokratie nach antikem Vorbild.
Morus zeichnete zwar das Bild einer gerechteren Welt, aus heutiger Sicht aber mit grossen Einschränkungen. Seine Ideen waren noch stark vom damaligen Denken geprägt, jedenfalls mussten Verbrecher ihre Strafe auch auf Utopia als Sklaven verbüssen, die Frauen hatten kein Stimmrecht und waren den Männern unterstellt, Individualismus war verpönt. Dennoch war das Buch für die damalige Zeit revolutionär und erreichte innerhalb kurzer Zeit über England hinaus grosse Bekanntheit.
Das utopische Denken wurde fortan zu einer Triebfeder des gesellschaftlichen Wandels. Die Forderungen der Aufklärung nach politischer und rechtlicher Freiheit und Gleichheit waren zuerst nichts anderes als Utopie. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Amerikanische und die Französische Revolution sich daranmachten, diese zu verwirklichen. Das utopische Denken beeinflusste die sozialistischen Bewegungen, die Entstehung der modernen Demokratie beförderte die Arbeiterbewegung wie die Frauenbewegung und legte den Grundstein für den Sozialstaat, in dem wir heute in der Schweiz leben. Freiheit, Gleichheit, Demokratie – all das waren einst nichts als Wunschträume.
In welch kurzer Zeit sich eine Gesellschaft wandeln kann, erlebte Ende des 19. Jahrhunderts auch die Schweiz. Die westlichen Gesellschaften befanden sich, angetrieben vom technologischen Fortschritt, im Umbruch. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert waren auch Schweizer Fabrikarbeiter rechtlich kaum geschützt. Es gab keine Arbeitszeitbeschränkung und keine Freitage. Kinderarbeit war weit verbreitet, schulische Bildung einer kleinen Elite vorbehalten. Die Industrialisierung schuf in den Städten eine Arbeiterklasse, die oft in Armut lebte. Vor diesem Hintergrund wuchs der Unmut über die herrschenden Verhältnisse. Sozialistische Bewegungen forderten die Abschaffung des Kapitalismus und eine Vergemeinschaftung der Produktionsmittel im Sinne von Karl Marx.
Utopien wurden zu Gesetzen
Diese radikalen Utopien blieben Wunschdenken. Doch unter dem wachsenden Druck fühlte sich der damals politisch dominierende Freisinn unter Zugzwang gesetzt und machte sich an die Reformierung des noch jungen Bundesstaats. Zuerst mit dem Fabrikgesetz im Jahr 1877. Dieses begrenzte die Arbeitszeit auf 65 Stunden, verbot die Arbeit für Kinder unter 14 Jahren und führte einen arbeitsfreien Sonntag ein. Nach der Jahrhundertwende entstanden die nationalen Sozialversicherungen und schliesslich die AHV. Umgesetzt wurde diese Transformation von bürgerlichen Kräften, doch ins Rollen gebracht hatten sie linke Utopisten, die daran glaubten, dass eine gerechtere Gesellschaft möglich ist.
Heute steht die Menschheit erneut an einem Wendepunkt. Vielleicht am entscheidendsten, den sie je erlebt hat. Doch wie gelingt eine gesellschaftliche Transformation, wenn die politischen Parteien in Ideenlosigkeit verharren? Wie lässt sich ein allumfassendes System wie der Kapitalismus von innen heraus transformieren? Eine Weltordnung, die jede Ritze unseres Lebens durchdringt, die keine einfachen Feindbilder bietet, von der wir alle abhängen und die wir alle mittragen?
Vor knapp zehn Jahren sorgte Occupy Wallstreet weltweit für Schlagzeilen. Innerhalb von wenigen Monaten hatte sich wie aus dem Nichts eine globale Bewegung formiert. Die Aktivisten besetzten die Eingänge von Grossbanken, zogen zu Tausenden durch die Strassen. Sie forderten eine stärkere Kontrolle des Bankenund Finanzsektors durch die Politik, die Verringerung des Einflusses der Wirtschaft auf politische Entscheidungen und die Reduzierung der sozialen Ungleichheit zwischen Arm und Reich.
Doch ebenso plötzlich, wie die Bewegung entstanden war, verschwand sie auch wieder. Zuerst von den Strassen, dann auch aus der Öffentlichkeit. Was blieb, war das Bild der Maske des Königsmörders Guy Fawkes, ein Symbol für den Widerstand gegen Ungleichheit, Profitgier und Gewinndenken. Und für viele Aktivisten und Aktivistinnen eine bittere Ernüchterung sowie der Glaube, dass ein friedlicher Umbau des kapitalistischen Systems unmöglich sei.
Tanz mit dem System
Woran entscheidet sich der Erfolg oder Misserfolg von sozialen Bewegungen? Das wissenschaftliche Interesse an der Protestforschung war lange Zeit wenig ausgeprägt. Seit der Jahrtausendwende und der weltweiten Zunahme von Protesten hat sich das geändert. Immer mehr Sozialwissenschaftler befassen sich mit dem Thema. Zuletzt sind zwei Bücher erschienen, beide mit dem Titel: «How change happens». Eins aus der Feder von Leslie Crutchfield, einer US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlerin, ein anderes von Duncan Green, einem Politologen aus Grossbritannien. In einem zentralen Punkt sind sich beide einig: Damit Wandel geschieht, braucht es eine gesellschaftliche Graswurzelbewegung: Bottom-up, vernetzt, angeführt von Individuen, welche die Bewegung zusammenhalten und kollektive Aktionen anführen. «Sie bilden Bewegungen und fokussieren auf die Veränderung der Herzen und politischen Ansätze», schreibt Leslie Crutchfield.
Einen Schritt weiter geht Duncan Green. Auch für ihn sind Aktivistinnen und Aktivisten der Ausgangspunkt jeder gesellschaftlichen Veränderung. Doch alleine können sie keinen grundlegenden Wandel bewirken. Stattdessen spricht er vom «Tanz mit dem System». Wollen zivilgesellschaftliche Bewegungen eine Transformation bewirken, müssen sie in einem ersten Schritt definieren, welche Veränderung sie herbeiführen möchten. Dann braucht es eine Analyse: Welche institutionellen Kräfte unterstützen oder blockieren den Wandel? Davon ausgehend gilt es, intelligente Koalitionen und Netzwerke zu bilden.
Für seine Forschung hat Green rund ein Dutzend historische Fälle untersucht. Ausgehend davon stellt er eine weitere Erkenntnis in den Vordergrund: die Bedeutung von unvorhersehbaren Ereignissen wie neue Personen in Machtpositionen, unerwartete Gesetzesänderungen, technologische Fortschritte, Skandale und Krisen. «Erwartet das Unerwartete», rät Green seinen Leserinnen.
Vor allem aber braucht es eine Ermächtigung der Bevölkerung – englisch treffender als «empowerment» beschrieben. In dieser Vorstellung sind die Menschen nicht mehr länger Leidtragende oder Profitierende, sondern die zentralen Akteure. Es ist der Übergang von einem Zustand der Machtlosigkeit und dem Gefühl des «Ich kann das nicht» hin zu einem Gefühl kollektiven Selbstvertrauens und dem Gedanken: Wir können!
Wie schon Rosa Parks im Bus
Die Macht des Einzelnen: Das mag auf den ersten Blick etwas abgedroschen klingen. Doch ein Blick in die Vergangenheit – die weit entfernte wie auch die ganz nahe – bestätigt die These: Radikale gesellschaftliche Transformation ist kaum je von den Institutionen oder der etablierten Politik ausgegangen, sondern fast immer von Einzelnen oder von Gruppen von Menschen. Während der Französischen Revolution trugen auch Bauern und das einfache Volk dazu bei, das herrschende System zu Fall zu bringen. In den USA des 20. Jahrhunderts war es Rosa Parks, die sich weigerte, ihren Platz im Bus für einen weissen Mann frei zu geben und die damit das Ende der Rassentrennung einläutete. Während des Arabischen Frühlings führte der Protest von Millionen von Menschen gleich reihenweise zum Fall autoritärer Regimes wenn auch mit wenig guten Folgen.
Und dann ist da Greta Thunberg. Eine schwedische Schülerin, die mit ihrem Schulstreik innerhalb von einem Jahr eine Bewegung ausgelöst hat, der sich weltweit Millionen Menschen angeschlossen haben. Während der Klimakonferenz in Spanien trat Thunberg auf die Bühne, ein Mädchen umringt von der Flagge der UNO, Staatsführerinnen und Kameras. «Es gibt Hoffnung», sagte sie. «Sie liegt nicht bei den Unternehmen, nicht bei den Regierungen. Die Hoffnung liegt bei euch, den Menschen!»
In den vergangenen Jahrzehnten haben wir es uns in der westlichen Welt ziemlich gemütlich eingerichtet. Und jetzt plötzlich steht eine zornige junge Frau vor unserer Haustür und fordert mit ihren Freundinnen, wir sollen uns vom Sofa erheben und unsere Welt umbauen! Wollen wir unser gutes Leben und unsere Sicherheiten für unsere Enkel und Urenkel bewahren, ist Veränderung tatsächlich die einzige Option. Gemütlich ist das nicht, aber unausweichlich. Mit dieser Einsicht vor Augen fällt es vielleicht auch leichter, wieder jene Fragen zu stellen, die für jeden Wandel nötig sind: In welcher Welt sollen unsere Nachfahren aufwachsen? Welche Zukunft wünschen wir uns für uns und unsere Mitmenschen? Welcher Weg führt dorthin?
Es ist an der Zeit, dass diese Fragen wieder zu einem zentralen Bestandteil unseres Denkens werden, unserer Gespräche und unseres Handelns. Denn der Übergang von der Utopie zur Realität beginnt im Hier und Jetzt. Ein ganzes Arsenal friedlicher Mittel steht bereit: Wir können unser Umfeld aufrütteln, politische Initiativen lancieren. Auf die Strasse gehen und lautstark jenen Wandel fordern, den unser Planet dringend braucht.
Als Synonyme für «Utopie» nennt der Duden übrigens «Wahn, Hirngespinst, Illusion». Doch wirklich wahnsinnig ist nur eines: zu glauben, wir könnten einfach so weitermachen wie bisher.
© Simon Jäggi | Bild: HansRuedi Keller