Zeit der Utopien

●  Lese­zeit etwa 10 Minu­ten

Das Alte ist am Verge­hen, das Neue hat noch nicht begon­nen. Unsere Zukunft entschei­det sich jetzt. Warum die Utopie die einzige Option für Verän­de­rung ist.

Es ist, als lebten wir gerade noch in einer ande­ren Welt. Wo Hyper­prag­ma­tis­mus regierte, die Menschen wie erstarrt schie­nen im neoli­be­ra­len Status quo. Noch immer klang der west­li­chen Welt wie ein Glocken­schlag das Verspre­chen von Marga­ret That­cher im Ohr: «T-I-N-A. There is no alter­na­tive.» Sie haben Visio­nen? Gehen Sie zum Arzt.

Und dann begann jener Sommer, der in der Schweiz als Wende­punkt in die Geschichte einge­hen wird. Eine neue Poli­ti­sie­rung erfasste das Land. Zehn­tau­sende Kinder und Jugend­li­che schlos­sen sich der welt­wei­ten Klima­be­we­gung an und trugen ihre Sorgen laut­stark in die Städte. «Wäm sini Zuekunft? Öisi Zuekunft!», hallte es durch die Stras­sen. Und, radi­ka­ler: «System change – not climate change!» In weni­gen Mona­ten entstand die grösste Jugend­be­we­gung der Schwei­zer Geschichte. Zeit­gleich formierte sich eine neue Frau­en­be­we­gung, die im Juni 500’000 Menschen auf die Strasse brachte. Auch sie fordern einen grund­le­gen­den Wandel: unbe­dingte Gleich­stel­lung, ein Ende der Diskri­mi­nie­rung und einen Umbau des kapi­ta­lis­ti­schen Systems. Im Herbst folg­ten in der Schweiz die natio­na­len Wahlen und mit ihnen die gröss­ten partei­po­li­ti­schen Verschie­bun­gen, welche der Schwei­zer Bundes­staat je erlebt hat. Mehr Frauen, mehr Grün!

Welt­weit gab es noch nie so viele Proteste wie 2019. Von Hong-Kong über Rom bis Sant­iago de Chile – Millio­nen Menschen gehen auf die Stras­sen und wollen Verän­de­rung, Frei­heit, Arbeit, gerechte Löhne, ein Ende der Umwelt­zerstörung.

Welche Zukunft wollen wir? Diese Frage domi­niert zuneh­mend den öffent­li­chen Diskurs. Und mit ihr kommt ein Begriff in die Öffent­lich­keit zurück, der lange verschwun­den war: Utopie. Ein Begriff, so mäch­tig wie verpönt. Der für den Willen nach einer besse­ren Welt steht und in den vergan­ge­nen Jahr­zehn­ten in Ungnade gefal­len war. Wört­lich aus dem Altgrie­chi­schen über­setzt heisst Utopie so viel wie «Un-Ort». Der Duden beschreibt den Begriff als «undurch­führ­bar erschei­nen­der Plan; Idee ohne reale Grund­lage». Eine ziem­lich nega­tive Beschrei­bung. Dabei waren es seit jeher die Utopis­ten, welche die mensch­li­che Zivi­li­sa­tion vorwärts­brach­ten. Es ist Zeit für eine Reha­bi­li­ta­tion.

Kein Vertrauen in die Poli­tik

In gros­sen Schrit­ten nähert sich die Mensch­heit dem, was die Wissen­schaft als Klima­ka­ta­stro­phe bezeich­net. Gelingt es uns nicht, den CO2-Ausstoss inner­halb der nächs­ten zehn Jahre auf ein Mini­mum zu redu­zie­ren, könnte die Welt, wie wir sie kennen, für immer verschwin­den. Die Wissen­schaft warnt seit über zwan­zig Jahren vor der einzig­ar­ti­gen Bedro­hung durch den Klima­wan­del. Dennoch hat die Poli­tik es bisher welt­weit verpasst, die notwen­di­gen Mass­nah­men zu tref­fen.

Der Klima­wan­del ist die grösste, aber nicht die einzige Gefahr, die unsere Frei­heit bedroht. Mit der fort­schrei­ten­den Digi­ta­li­sie­rung gera­ten Millio­nen von Arbeits­plät­zen unter Druck. Laut extre­men Schät­zun­gen ist in West­eu­ropa jede zweite Stelle bedroht. Zugleich nimmt die Ungleich­heit welt­weit weiter­hin zu und gefähr­det den sozia­len Frie­den. Ob es gelin­gen wird, diese Heraus­for­de­run­gen mit dem Klein-Klein der poli­ti­schen Routi­ne­ma­schi­ne­rie zu bewäl­ti­gen? Es sieht nicht danach aus.

An Ideen, wie eine gerech­tere und ökolo­gisch nach­hal­tige Gesell­schaft erreicht werden könnte, fehlt es nicht. Das zeigen zahl­rei­che progres­sive Vorstösse, von 1:12 über ein bedin­gungs­lo­ses Grund­ein­kom­men bis zur Glet­scher-Initia­tive. Die Liste liesse sich fort­setz­ten: glei­cher Lohn für Frauen und Männer, Stimm­recht für Menschen ohne Schwei­zer Pass und bezahl­ba­rer Wohn­raum für alle. Fast alle stam­men von Akteu­ren aus der Zivilgesellschaft.

Während auf den Stras­sen der Ruf nach Verän­de­rung immer lauter klingt, sinkt das Vertrauen in die Poli­tik. Nicht nur in Deutsch­land oder den USA, auch in der Schweiz, wie das kürz­lich erschie­nene Sorgen­ba­ro­me­ter des Forschungs­in­sti­tuts gfs.bern zeigt. Das Vertrauen der Bevöl­ke­rung in die Insti­tu­tio­nen ist einge­bro­chen. Fast die Hälfte der Stimm­be­rech­tig­ten glaubt, dass die Poli­tik in entschei­den­den Dingen versage. Die Studi­en­au­toren spre­chen von «Poli­tik­ver­dros­sen­heit».

Erstaun­lich ist das nicht. Über die vergan­ge­nen zwan­zig Jahre sind der etablier­ten Poli­tik auf natio­na­ler Ebene kaum noch entschei­dende Fort­schritte gelun­gen. Die Parteien in der Schweiz wirk­ten, mit Ausnahme der rechts­po­pu­lis­ti­schen SVP und der Jung­so­zia­lis­ten, zöger­lich und ideen­los. Die letzte grosse Errun­gen­schaft des Schwei­zer Sozi­al­staats war die Einfüh­rung der Mutter­schafts­ver­si­che­rung im Jahr 2005. Die SP schrieb 2010 als Fern­ziel die Über­win­dung des Kapi­ta­lis­mus ins Partei­pro­gramm, strich es aber wenig später wieder heraus. Zu laut war die Kritik. Neue Gesell­schafts­ent­würfe, utopi­sche Ideen im Sinne einer grund­le­gen­den Verbes­se­rung des Bestehen­den? Fehlanzeige.

Die bürger­li­chen Parteien haben indes­sen die soziale Kompo­nente fast voll­stän­dig aus den Augen verlo­ren und sich komplett neoli­be­ra­len Glau­bens­sät­zen erge­ben. Erhö­hung des Renten­al­ters, neue Kampf­jets, Unter­neh­mens­steu­er­re­form – es zeigt sich so deut­lich wie noch nie, dass den konser­va­ti­ven Kräf­ten Antwor­ten auf die drän­gends­ten Fragen unse­rer Zeit fehlen. Nicht nur, weil sie den Klima­wan­del und die wach­sende Ungleich­heit über Jahre igno­riert oder gar geleug­net haben. Es ist jener unge­zü­gelte Markt, der die Mensch­heit erst dort­hin gebracht hat, wo sie heute steht. Die Massen­pro­teste in Chile, die ertrin­ken­den Menschen in Mittel­meer, die wüten­den Busch­feuer in Austra­lien – sie alle sind die Folgen eines Systems, das die Umwelt zerstört und absurd reiche Gewin­ner auf Kosten von Millio­nen von Verlie­rern produ­ziert. Während die Auto­mo­bil­her­stel­ler zur Jahres­wende noch­mals schnel­lere, stär­kere und exklu­si­vere SUVs auf den Markt brin­gen, ganz so als gäbe es kein Morgen.

Trieb­fe­der des Wandels

Um zu verste­hen, was Utopien in der heuti­gen Zeit leis­ten könn­ten, lohnt sich ein Blick in die Vergan­gen­heit, ins Europa des frühen 16. Jahr­hun­derts. Klerus und Adel herrsch­ten über die Land­be­völ­ke­rung und beute­ten diese gnaden­los aus. Aus Italien verbrei­tete sich der Geist der Renais­sance lang­sam nord­wärts und in England publi­zierte der engli­sche Gelehrte Thomas Morus seinen legen­dä­ren Text «Utopia». Haupt­fi­gur ist ein Seefah­rer, der nach langer Reise zurück­kehrt und von einer weit entfern­ten Insel erzählt. Die Insel mit dem Namen Utopia ist ein Gegen­ent­wurf zur engli­schen Gesell­schaft der dama­li­gen Zeit. Auf ihr leben die Menschen in sozia­ler Gleich­heit. Der Wohl­stand ist gleich­mäs­sig verteilt, Privat­ei­gen­tum gibt es keines. Insge­samt produ­zie­ren die Bewoh­ner mehr, als sie zum Leben brau­chen. Arbei­ten müssen alle, doch niemand mehr als sechs Stun­den am Tag. Es herrscht Demo­kra­tie nach anti­kem Vorbild.

Morus zeich­nete zwar das Bild einer gerech­te­ren Welt, aus heuti­ger Sicht aber mit gros­sen Einschrän­kun­gen. Seine Ideen waren noch stark vom dama­li­gen Denken geprägt, jeden­falls muss­ten Verbre­cher ihre Strafe auch auf Utopia als Skla­ven verbüs­sen, die Frauen hatten kein Stimm­recht und waren den Männern unter­stellt, Indi­vi­dua­lis­mus war verpönt. Dennoch war das Buch für die dama­lige Zeit revo­lu­tio­när und erreichte inner­halb kurzer Zeit über England hinaus grosse Bekannt­heit.

Das utopi­sche Denken wurde fortan zu einer Trieb­fe­der des gesell­schaft­li­chen Wandels. Die Forde­run­gen der Aufklä­rung nach poli­ti­scher und recht­li­cher Frei­heit und Gleich­heit waren zuerst nichts ande­res als Utopie. Bis zu dem Zeit­punkt, als die Ameri­ka­ni­sche und die Fran­zö­si­sche Revolution sich daran­mach­ten, diese zu verwirk­li­chen. Das utopi­sche Denken beein­flusste die sozia­lis­ti­schen Bewe­gun­gen, die Entste­hung der moder­nen Demo­kra­tie beför­derte die Arbei­ter­be­we­gung wie die Frau­en­be­we­gung und legte den Grund­stein für den Sozi­al­staat, in dem wir heute in der Schweiz leben. Frei­heit, Gleich­heit, Demo­kra­tie – all das waren einst nichts als Wunsch­träume.

In welch kurzer Zeit sich eine Gesell­schaft wandeln kann, erlebte Ende des 19. Jahr­hun­derts auch die Schweiz. Die west­li­chen Gesell­schaf­ten befan­den sich, ange­trie­ben vom tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt, im Umbruch. Noch bis weit ins 19. Jahr­hun­dert waren auch Schwei­zer Fabrik­ar­bei­ter recht­lich kaum geschützt. Es gab keine Arbeits­zeit­be­schrän­kung und keine Frei­tage. Kinder­ar­beit war weit verbrei­tet, schu­li­sche Bildung einer klei­nen Elite vorbe­hal­ten. Die Indus­tria­li­sie­rung schuf in den Städ­ten eine Arbei­ter­klasse, die oft in Armut lebte. Vor diesem Hinter­grund wuchs der Unmut über die herr­schen­den Verhält­nisse. Sozia­lis­ti­sche Bewe­gun­gen forder­ten die Abschaf­fung des Kapi­ta­lis­mus und eine Verge­mein­schaf­tung der Produk­ti­ons­mit­tel im Sinne von Karl Marx.

Utopien wurden zu Geset­zen

Diese radi­ka­len Utopien blie­ben Wunsch­den­ken. Doch unter dem wach­sen­den Druck fühlte sich der damals poli­tisch domi­nie­rende Frei­sinn unter Zugzwang gesetzt und machte sich an die Refor­mie­rung des noch jungen Bundes­staats. Zuerst mit dem Fabrik­ge­setz im Jahr 1877. Dieses begrenzte die Arbeits­zeit auf 65 Stun­den, verbot die Arbeit für Kinder unter 14 Jahren und führte einen arbeits­freien Sonn­tag ein. Nach der Jahr­hun­dert­wende entstan­den die natio­na­len Sozi­al­ver­si­che­run­gen und schliess­lich die AHV. Umge­setzt wurde diese Trans­for­ma­tion von bürger­li­chen Kräf­ten, doch ins Rollen gebracht hatten sie linke Utopis­ten, die daran glaub­ten, dass eine gerech­tere Gesell­schaft möglich ist.

Heute steht die Mensch­heit erneut an einem Wende­punkt. Viel­leicht am entschei­dends­ten, den sie je erlebt hat. Doch wie gelingt eine gesell­schaft­li­che Trans­for­ma­tion, wenn die poli­ti­schen Parteien in Ideen­lo­sig­keit verhar­ren? Wie lässt sich ein allum­fas­sen­des System wie der Kapi­ta­lis­mus von innen heraus trans­for­mie­ren? Eine Welt­ord­nung, die jede Ritze unse­res Lebens durch­dringt, die keine einfa­chen Feind­bil­der bietet, von der wir alle abhän­gen und die wir alle mittragen?

Vor knapp zehn Jahren sorgte Occupy Wall­street welt­weit für Schlag­zei­len. Inner­halb von weni­gen Mona­ten hatte sich wie aus dem Nichts eine globale Bewe­gung formiert. Die Akti­vis­ten besetz­ten die Eingänge von Gross­ban­ken, zogen zu Tausen­den durch die Stras­sen. Sie forder­ten eine stär­kere Kontrolle des Banken­und Finanz­sek­tors durch die Poli­tik, die Verrin­ge­rung des Einflus­ses der Wirt­schaft auf poli­ti­sche Entschei­dun­gen und die Redu­zie­rung der sozia­len Ungleich­heit zwischen Arm und Reich.

Doch ebenso plötz­lich, wie die Bewe­gung entstan­den war, verschwand sie auch wieder. Zuerst von den Stras­sen, dann auch aus der Öffent­lich­keit. Was blieb, war das Bild der Maske des Königs­mör­ders Guy Fawkes, ein Symbol für den Wider­stand gegen Ungleich­heit, Profit­gier und Gewinn­den­ken. Und für viele Akti­vis­ten und Akti­vis­tin­nen eine bittere Ernüch­te­rung sowie der Glaube, dass ein fried­li­cher Umbau des kapi­ta­lis­ti­schen Systems unmög­lich sei.

Tanz mit dem System

Woran entschei­det sich der Erfolg oder Miss­erfolg von sozia­len Bewe­gun­gen? Das wissen­schaft­li­che Inter­esse an der Protest­for­schung war lange Zeit wenig ausge­prägt. Seit der Jahr­tau­send­wende und der welt­wei­ten Zunahme von Protes­ten hat sich das geän­dert. Immer mehr Sozi­al­wis­sen­schaft­ler befas­sen sich mit dem Thema. Zuletzt sind zwei Bücher erschie­nen, beide mit dem Titel: «How change happens». Eins aus der Feder von Leslie Crutch­field, einer US-ameri­ka­ni­schen Wirt­schafts­wis­sen­schaft­le­rin, ein ande­res von Duncan Green, einem Poli­to­lo­gen aus Gross­bri­tan­nien. In einem zentra­len Punkt sind sich beide einig: Damit Wandel geschieht, braucht es eine gesell­schaft­li­che Gras­wur­zel­be­we­gung: Bottom-up, vernetzt, ange­führt von Indi­vi­duen, welche die Bewe­gung zusam­men­hal­ten und kollek­tive Aktio­nen anfüh­ren. «Sie bilden Bewe­gun­gen und fokus­sie­ren auf die Verän­de­rung der Herzen und poli­ti­schen Ansätze», schreibt Leslie Crutch­field.

Einen Schritt weiter geht Duncan Green. Auch für ihn sind Akti­vis­tin­nen und Akti­vis­ten der Ausgangs­punkt jeder gesell­schaft­li­chen Verän­de­rung. Doch alleine können sie keinen grund­le­gen­den Wandel bewir­ken. Statt­des­sen spricht er vom «Tanz mit dem System». Wollen zivil­ge­sell­schaft­li­che Bewe­gun­gen eine Trans­for­ma­tion bewir­ken, müssen sie in einem ersten Schritt defi­nie­ren, welche Verän­de­rung sie herbei­füh­ren möch­ten. Dann braucht es eine Analyse: Welche insti­tu­tio­nel­len Kräfte unter­stüt­zen oder blockie­ren den Wandel? Davon ausge­hend gilt es, intel­li­gente Koali­tio­nen und Netz­werke zu bilden.

Für seine Forschung hat Green rund ein Dutzend histo­ri­sche Fälle unter­sucht. Ausge­hend davon stellt er eine weitere Erkennt­nis in den Vorder­grund: die Bedeu­tung von unvor­her­seh­ba­ren Ereig­nis­sen wie neue Perso­nen in Macht­po­si­tio­nen, uner­war­tete Geset­zes­än­de­run­gen, tech­no­lo­gi­sche Fort­schritte, Skan­dale und Krisen. «Erwar­tet das Uner­war­tete», rät Green seinen Lese­rin­nen.

Vor allem aber braucht es eine Ermäch­ti­gung der Bevöl­ke­rung – englisch tref­fen­der als «empower­ment» beschrie­ben. In dieser Vorstel­lung sind die Menschen nicht mehr länger Leid­tra­gende oder Profi­tie­rende, sondern die zentra­len Akteure. Es ist der Über­gang von einem Zustand der Macht­lo­sig­keit und dem Gefühl des «Ich kann das nicht» hin zu einem Gefühl kollek­ti­ven Selbst­ver­trau­ens und dem Gedan­ken: Wir können!

Wie schon Rosa Parks im Bus

Die Macht des Einzel­nen: Das mag auf den ersten Blick etwas abge­dro­schen klin­gen. Doch ein Blick in die Vergan­gen­heit – die weit entfernte wie auch die ganz nahe – bestä­tigt die These: Radi­kale gesell­schaft­li­che Trans­for­ma­tion ist kaum je von den Insti­tu­tio­nen oder der etablier­ten Poli­tik ausge­gan­gen, sondern fast immer von Einzel­nen oder von Grup­pen von Menschen. Während der Fran­zö­si­schen Revolution trugen auch Bauern und das einfa­che Volk dazu bei, das herr­schende System zu Fall zu brin­gen. In den USA des 20. Jahr­hun­derts war es Rosa Parks, die sich weigerte, ihren Platz im Bus für einen weis­sen Mann frei zu geben und die damit das Ende der Rassen­tren­nung einläu­tete. Während des Arabi­schen Früh­lings führte der Protest von Millio­nen von Menschen gleich reihen­weise zum Fall auto­ri­tä­rer Regimes wenn auch mit wenig guten Folgen.

Und dann ist da Greta Thun­berg. Eine schwe­di­sche Schü­le­rin, die mit ihrem Schul­streik inner­halb von einem Jahr eine Bewe­gung ausge­löst hat, der sich welt­weit Millio­nen Menschen ange­schlos­sen haben. Während der Klima­kon­fe­renz in Spanien trat Thun­berg auf die Bühne, ein Mädchen umringt von der Flagge der UNO, Staats­füh­re­rin­nen und Kame­ras. «Es gibt Hoff­nung», sagte sie. «Sie liegt nicht bei den Unter­neh­men, nicht bei den Regie­run­gen. Die Hoff­nung liegt bei euch, den Menschen!»

In den vergan­ge­nen Jahr­zehn­ten haben wir es uns in der west­li­chen Welt ziem­lich gemüt­lich einge­rich­tet. Und jetzt plötz­lich steht eine zornige junge Frau vor unse­rer Haus­tür und fordert mit ihren Freun­din­nen, wir sollen uns vom Sofa erhe­ben und unsere Welt umbauen! Wollen wir unser gutes Leben und unsere Sicher­hei­ten für unsere Enkel und Uren­kel bewah­ren, ist Verän­de­rung tatsäch­lich die einzige Option. Gemüt­lich ist das nicht, aber unaus­weich­lich. Mit dieser Einsicht vor Augen fällt es viel­leicht auch leich­ter, wieder jene Fragen zu stel­len, die für jeden Wandel nötig sind: In welcher Welt sollen unsere Nach­fah­ren aufwach­sen? Welche Zukunft wünschen wir uns für uns und unsere Mitmen­schen? Welcher Weg führt dort­hin?

Es ist an der Zeit, dass diese Fragen wieder zu einem zentra­len Bestand­teil unse­res Denkens werden, unse­rer Gesprä­che und unse­res Handelns. Denn der Über­gang von der Utopie zur Reali­tät beginnt im Hier und Jetzt. Ein ganzes Arse­nal fried­li­cher Mittel steht bereit: Wir können unser Umfeld aufrüt­teln, poli­ti­sche Initia­ti­ven lancie­ren. Auf die Strasse gehen und laut­stark jenen Wandel fordern, den unser Planet dringend braucht.

Als Synonyme für «Utopie» nennt der Duden übri­gens «Wahn, Hirn­ge­spinst, Illu­sion». Doch wirk­lich wahn­sin­nig ist nur eines: zu glau­ben, wir könn­ten einfach so weitermachen wie bisher.

©  Simon Jäggi  |  Bild: Hans­Ruedi Keller