Neues Denken über Krisen

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Der Klima­wan­del sei nicht aufzu­hal­ten, schreibt Thomas Metzin­ger in seinem neuen Buch. Als Vorbe­rei­tung auf das Unabwendbare empfiehlt er uns eine neue Bewusstseinskultur.

Der Klima­wan­del sei nicht aufzu­hal­ten, schreibt Thomas Metzin­ger in seinem neuen Buch. Als Vorbe­rei­tung auf das Unabwendbare empfiehlt er uns eine neue Bewusstseinskultur.

Sollte er gehofft haben, mit seinem neuen Essay Skep­ti­ker oder sogar Gegne­rin­nen zu über­zeu­gen, hätte er anders anfan­gen sollen. Statt­des­sen macht uns Thomas Metzin­ger, der deut­sche Philo­soph und emeri­tierte Profes­sor der Univer­si­tät Mainz, schon auf der zwei­ten Seite seines neuen Buchs klar, wie er denkt.

Seit einem halben Jahr­hun­dert wüss­ten wir, schreibt er, «dass das alte, von Gier, Neid und rück­sichts­lo­sem Wett­be­werb ange­trie­bene Modell des konti­nu­ier­li­chen Wirt­schafts­wachs­tums uns in die globale Kata­stro­phe führt». Realis­tisch betrach­tet, seien unsere Hand­lungs­op­tio­nen mitt­ler­weile nur noch «auf Scha­dens­be­gren­zung und ein möglichst intel­li­gen­tes Krisen­ma­nage­ment beschränkt». Es sehe «sehr schlecht aus», ergänzt er im Gespräch.

Metzin­ger spricht auch über die Reak­tio­nen, die uns erwar­ten, wenn eintrifft, was er den «globa­len Panik­punkt» als entschei­den­den psycho­lo­gi­schen Kipp­punkt nennt: die jähe Erkennt­nis, dass die Kata­stro­phe über uns herfällt. Wann das sein wird, möchte Metzin­ger nicht präzi­sie­ren, aber ziem­lich sicher inner­halb der nächs­ten beiden Jahr­hun­derte. Mögli­cher­weise schon viel früher. Dieser Panik­punkt, sagt Metzin­ger, werde den Ökoter­ro­ris­mus fördern, immer neue Verschwö­rungs­theo­rien und reli­giöse Bewe­gun­gen entste­hen lassen, millio­nen­fa­che Flücht­lings­be­we­gun­gen erzeu­gen, die mit Gewalt zurück­ge­schla­gen würden. Mili­tä­ri­sche Konflikte würden stark zuneh­men, die Jungen die Alten verach­ten oder vor der Reali­tät einfach resi­gnie­ren.

Dass bis heute nichts Rele­van­tes gegen die ökolo­gi­sche Entwick­lung passiert ist und es auch nicht zu einem fried­li­chen Über­gang vom Kapi­ta­lis­mus auf eine Post­wachs­tums­ge­sell­schaft kommen wird, erklärt sich der Philo­soph mit dem Prinzip der Träg­heit.

Träg­heit der Umwelt, welche die Tempe­ra­tur und den Meeres­spie­gel lang­sam, aber noch für Jahr­hun­derte anstei­gen lassen werde; Träg­heit der Evolu­tion, die uns mit der Eigen­schaft des Immer-mehr-Wollens ausge­stat­tet habe, was einmal lebens­wich­tig gewe­sen sei, weil es so wenig gege­ben habe, aber jetzt als Haltung verhee­rend sei; Träg­heit unse­rer biolo­gi­schen Nerven­sys­teme im Gehirn, die weit lang­sa­mer lern­ten, als die Welt sich jetzt verän­dere; Träg­heit schliess­lich der poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und gesell­schaft­li­chen Systeme, recht­zei­tig auf Krisen zu reagie­ren. Wobei Thomas Metzin­ger «als Urde­mo­krat», wie er sagt, die selek­tive Ausschal­tung der Demo­kra­tie zur Beschleu­ni­gung von Mass­nah­men gegen den Klima­wan­del ablehnt, die von manchen Akti­vis­ten immer lauter gefordert wird.

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Einen gros­sen Teil der Mitschuld an der Klima­ent­wick­lung ortet Metzin­ger bei jener Mehr­heit, die weiter fliegt, Auto fährt, Plas­tik benutzt und Produkte von umwelt­schä­di­gen­den Firmen kauft. Sie tut das aus Bequem­lich­keit und Egois­mus – und hilft damit, den Klima­wan­del und die Umwelt­zerstörung voran­zu­trei­ben. Klar ist für ihn deshalb: Viele Menschen und die meis­ten Tiere werden wegen unse­res Egois­mus und der fehlen­den Empa­thie in den kommen­den Gene­ra­tio­nen unter­ge­hen oder ausster­ben. Wie sollen wir mit einer solchen Prognose umge­hen? Wie sollen wir auf sie reagie­ren?

Die Antwort auf
die Klima­kata­strophe?
«Medi­tie­ren»,
sagt der Philo­soph

Die Antwort auf die Klima­kata­strophe?
«Medi­tie­ren»,
sagt der Philo­soph

Thomas Metzin­ger ist inso­fern ein unge­wöhn­li­cher Philo­soph, als er sich auch für Neuro­phy­sio­lo­gie inter­es­siert und sich immer für eine Zusam­men­ar­beit von Geis­tes- und Natur­wis­sen­schaf­ten ausge­spro­chen hat. Sein wissen­schaft­li­cher Blick hindert ihn wohl daran, dem Zweck­op­ti­mis­mus zu verfal­len, den er als Verdrän­gung der Reali­tät empfin­det.

Seine Vertre­ter nennt er «Aufmerk­sam­keits­un­ter­neh­mer», deren Acht­sam­keits­be­we­gung er über­wie­gend für eine Verleug­nung der eige­nen Sterb­lich­keit hält. Aber auch den aggres­si­ven Zweck­pes­si­mis­mus der Klima­ak­ti­vis­ten lehnt er als unred­lich ab, denn sie täten so, als sei alles nur eine poli­ti­sche Frage.

Selbst den in den letz­ten Jahr­zehn­ten entstan­de­nen, soge­nann­ten spiri­tu­el­len Alter­na­tiv­kul­tu­ren kann der Autor nichts abge­win­nen, er findet sie intellek­tuell unred­lich, reak­tio­när und in ihrer Vereh­rung indi­scher Philo­so­phien naiv bis zum Kitsch von Buddha-Statuen und Meditations­musik.

Ein neuer Realis­mus muss her

Statt­des­sen plädiert Thomas Metzin­ger in einer kühnen Denk­fi­gur für das Zusam­men­ge­hen von Spiri­tua­li­tät und Wissen­schaft. Beides sieht er in der Praxis der Medi­ta­tion vereint. Und bestä­tigt damit den rätsel­haf­ten Satz von Leonard Cohen, dem Song­schrei­ber, der sechs Jahre in einem Zenklos­ter verbrachte und dann sagte: «Medi­ta­tion hat mehr mit Wissen­schaft zu tun als mit Reli­gion.»

Beide Systeme seien eben aufein­an­der ange­wie­sen, sagt Metzin­ger im Gespräch, und nur ihre Kombi­na­tion schaffe das Unver­zicht­bare: einen Realis­mus im Einschät­zen dessen, was auf uns zukomme. Metzin­ger nennt diesen eine «radi­kale Ehrlich­keit». Eine erkennt­nis­be­zo­gene Einstel­lung oder, wie er es formu­liert: «ein unbe­ding­ter Wille zum Wissen», den er sowohl bei der Spiri­tua­li­tät wie bei der Wissen­schaft als Bedin­gung für beide formu­liert.

Dazu brau­che es «eine neue Bewusstseinskultur», schreibt er, gibt aber gegen Ende seines Essays zu, dass nur weni­gen vorbe­hal­ten bleibt, eine solche zu entwi­ckeln. Unter dem Begriff meint er «zeit­ge­mässe Erwei­te­rung des alten philo­so­phi­schen Ideals der Selbst­er­kennt­nis» aus einem «nicht-egois­ti­schen Selbst­be­wusst­sein». Die Medi­ta­tion, die er zu seinem Erlan­gen empfiehlt, prak­ti­ziere er selber seit Jahr­zehn­ten täglich, sagt er. Er versteht sie als «spezi­fi­sche, anstren­gungs­lose Möglich­keit von Ratio­na­li­tät».

Erst mit einem klaren Geist, sagt er, könn­ten wir mit dem umge­hen, was unwei­ger­lich auf uns zukomme. Und damit möglichst viele in den Genuss dieses neuen Bewusst­seins kommen, empfiehlt er, Medi­ta­tion in den Schul­unterricht aufzunehmen.

Das klingt eska­pis­tisch, aber nichts läge dem Autor ferner. Er versteht die Medi­ta­tion nicht als Flucht vor der Reali­tät oder gar als Vermei­dung der ökolo­gi­schen Kata­stro­phe, die auf uns zukom­men wird, sondern als ehrli­chen und bewuss­ten Ersatz für die Lügen der Reli­gio­nen, die uns alle bis heute täuschen würden.

Thomas Metzin­ger: «Bewusstseinskultur: Spiri­tua­li­tät, intel­lek­tu­elle Redlich­keit und die plane­tare Krise.» Berlin. München: Piper, 2023. 208 Seiten.

Ex Libris | Orell Füssli | buchhaus.ch

Jean-Martin Bütt­ner studierte Psycho­lo­gie, Psycho­pa­tho­lo­gie und Anglis­tik und disser­tierte über die Psycho­ana­lyse der Rock­mu­sik. Von 1984 an arbei­tete er für den «Tages-Anzei­ger» in den Ressorts Kultur, Inland, Hinter­grund, Analyse sowie als Korre­spon­dent. Seit Anfang 2021 schreibt er als freier Autor.

Photo: Wild­fire in the Bitter­root Natio­nal Forest in Montana (USA)
by John McCol­gan, employed as a fire behavior analyst at the Forest Service, an agency of the U.S. Depart­ment of Agriculture.